Innere Widerstandskraft
Was hilft Menschen trotz Misserfolgen, Schicksalsschlägen, Misshandlungen, Traumata oder höchsten Belastungssituationen, wie „Stehaufmännchen“ aus schwierigsten Phasen hervorzugehen? Was unterscheidet sie von Menschen, die an Krisen zerbrechen, keine Hoffnung und Zuversicht aufbringen können und psychisch krank werden? Das Zauberwort heißt „Resilienz“.
„Resilienz beschreibt die innere Widerstandskraft“, erklärt die Hamburger Psychologin Lilo Endriss. Menschen mit hoher seelischer Widerstandskraft und Beweglichkeit lassen sich nicht so schnell aus der Bahn werfen. Im Gegenteil, sie wachsen sogar noch daran. So wie die heute 35-jährige Martha aus Bregenz. Sie ist 10 Jahre alt, als sich ihre Eltern scheiden lassen. „Papa war einfach weg, er ist mit einer anderen Frau nach Deutschland gezogen. Der Kontakt zu ihm ist seither abgebrochen.“ Ihre Mutter, die schon immer psychisch labil war, wird mit der Situation nicht fertig – ist total überfordert. Sie beginnt Alkohol zu trinken und vernachlässigt ihre drei minderjährigen Kinder immer mehr – auch Schläge sind keine Seltenheit. Martha, die Älteste, übernimmt fortan die Verantwortung für Haushalt, Geschwister und Mutter. Das macht sie so perfekt, dass lange Zeit niemand die Situation in ihrer ganzen Tragweite begreift. Ihre einzige Bezugsperson, an die sie sich wenden kann, ist ihre Nachbarin. Diese unterstützt Martha so gut es geht. Nach dem totalen Zusammenbruch ihrer Mutter werden die Kinder bei Pflegeeltern untergebracht. Aber auch hier erfahren die Kinder nicht die „heile Welt“. Martha ist eine gute Schülerin und trotz der vielfachen Belastungen meistert sie die Schule ohne große Hindernisse. „Meine Klassenlehrerin war mein großes Vorbild! Ich wollte so werden wie sie und das ganze Elend hinter mir lassen.“ Das gelingt ihr auch. Sie maturiert, studiert Psychologie und arbeitet heute als Psychotherapeutin in einer freien Praxis.
Innere Stärke
Was unterscheidet Martha von anderen Menschen in ähnlichen Situationen? Hat sie einfach nur Glück gehabt? Nein. Eine Vielzahl psychologischer Studien weist darauf hin, dass nicht alle Betroffenen von traumatischen Ereignissen dauerhaft psychisch krank werden. Die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner konnte mit ihrer Kauai-Langzeitstudie mit hawaiianischen Kindern nachweisen, dass sich auch Kinder, die unter schwierigsten Bedingungen aufwachsen, trotz allem gesund entwickeln können. In ihrer Studie, in der sie 700 Kinder über 40 Jahre lang begleitete, wuchsen ca. 30 Prozent unter sehr schwierigen Bedingungen auf. Sie waren sehr arm, kamen aus Familien mit psychisch oder physisch kranken oder gewalttätigen Eltern. Ein Drittel dieser Kinder entwickelte sich sogar erstaunlich gut. So widerlegte sie die Annahme, dass sich Kinder aus Risikofamilien zwangsläufig „schlecht“ entwickeln. Bei den sogenannten „widerstandsfähigen“ Kindern lassen sich unterschiedliche Schutzfaktoren erkennen. Dazu zählen, unter anderem, persönliche Eigenschaften wie ein ruhiges, freundliches Temperament und ein offenes Wesen. Diese machen es leichter, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Widerstandsfähige Kinder finden Halt in einer stabilen emotionalen Beziehung zu Vertrauenspersonen, wie zum Beispiel Großeltern, Nachbarn, einer Lieblingslehrperson oder einem Seelsorger. Solche Menschen bieten vernachlässigten, misshandelten Kindern einen Zufluchtsort und geben ihnen die Bestätigung, etwas wert zu sein. Schon eine einzelne Bezugsperson kann eine bedeutende Wirkung für das Leben eines Kindes haben.
Ist Resilienz erlernbar?
Auch wenn wir nicht alle als unverwundbare Wesen auf die Welt gekommen sind, gibt es dennoch Hoffnung. Resilienz Forscher sind sich einig, dass es möglich ist, das seelische Immunsystem zeitlebens zu stärken. Die Fähigkeit, Resilienz zu entwickeln, ist erlernbar. Idealerweise sollten schon Kinder damit anfangen. Diplompsychologin Ursula Nuber hält es für wichtig, Kinder für ihre Leistungen zu loben und nicht für ihre Eigenschaften. Also: „Das Bild ist dir gut gelungen“, anstelle von „Du bist so begabt.“ So lernen Kinder, Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Kinder sollten auch wissen, dass es immer verschiedene Sichtweisen auf eine Situation gibt. Ist das Glas halb leer oder halb voll? Außerdem gilt es, Kinder anzuleiten, Freunde zu finden und Freundschaften auch zu pflegen. Soziale Beziehungen geben Halt, gerade wenn es turbulent wird.
Lähmende Gedanken
Für Erwachsene ist es wichtig, nicht in selbst schädigendes Grübeln zu verfallen. „Gedanken, die wir uns zu einer Situation machen, verursachen Gefühle und diese leiten unser Handeln“, so Nuber. Und: Für unsere Gedanken sind wir selbst verantwortlich. Wenn wir also das Gefühl haben, vom Pech verfolgt zu sein, lässt uns das verzweifeln und das wiederum lähmt unsere Handlungsfähigkeit. Wenn ich aber davon ausgehe, dass ich dieses Mal einfach Pech beim Bewerbungsgespräch hatte, stimmt das schon zuversichtlicher und es überwiegt das Gefühl, die Situation nächstes Mal beeinflussen zu können.
Kann Resilienz erlernt werden?
Laut „road to resilience“, der amerikanischen Psychologenvereinigung, helfen folgende Verhaltensweisen, um Resilienz aufzubauen: Sorge für dich selbst, glaube an deine Fähigkeiten, baue soziale Kontakte auf, entwickle realistische Ziele, verlasse die Opferrolle, nimm eine Langzeitperspektive ein, betrachte Krisen nicht als unüberwindbares Problem. So, wie bei Martha, die sich ihren Glauben und ihre Zuversicht an eine gute Zukunft nie hat nehmen lassen. „Ich wusste immer, dass es mich nicht weiterbringt, mit meinem Schicksal zu hadern. Und ich hatte das Vertrauen in meine Fähigkeiten, dass ich meine Ziele erreichen kann.“ Resilienz als Zaubermittel? Nicht immer. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass wir Menschen nur in ihrer Resilienz stärken und fördern müssen und alles wird gut. Dazu braucht es reelle Chancen etwas erreichen und verändern zu können und ein Umdenken in der Gesellschaft. Der Mensch sollte nicht nur als Leistungsmaschine gesehen werden. „Wir brauchen eine Haltung, die von Wertschätzung, Anerkennung, Respekt und Empathie gegenüber anderen geprägt ist und die auch vor starken Gefühlen nicht zurückschreckt. Und das ist ebenfalls erlernbar“, so Heidi Achammer von der SUPRO.